Das Warten der Gerechten wird Freude werden. (Sprüche 10,28)


Die Taube auf deiner Schulter

Predigt über 1.Kor. 2,12-16 am Pfingstsonntag 2023
von Pfr. Gerd Krumbiegel

Liebe Gemeinde,
„In einer sizilianischen Bergstadt liebte es ein Pfarrer, die Geheimnisse Gottes möglichst sichtbar zu machen. So ließ er durch den Kirchendiener gleich nach dem Pfingstevangelium von der Empore eine Taube in die Luft werfen. Die Taube schwebte durch den Kirchenraum und alle waren gespannt, wo sie sich niederlassen würde, denn es hatte sich die Meinung herausgebildet: wem sich die Taube auf die Schulter oder den Kopf setzt, dem ist eine besondere Erleuchtung gewiss.
  So war die Taube vor einigen Jahren dem Seminarlehrer auf die Schultern geflogen, und er hatte danach ein geistvolles Buch geschrieben. Einmal hatte sie sich dem jungen, eingebildeten Grafen auf den Kopf gesetzt und der ließ daraufhin eine neue Wasserleitung bauen, die er lange Zeit verweigert hatte. Als sich im Jahr darauf die Taube auf die Schulter des undurchsichtigen Verwalters des Armenhauses setzte, fasste dieser den Entschluss, mit den unterschlagenen Geldern eine Kapelle errichten zu lassen...

Doch dann kam ein neuer Pfarrer in den Ort. Der hielt nichts von derartigem Aberglauben. Er nannte die Taube seines Vorgängers einfach den „Vogel“. Weil die Leute den Brauch so sehr mochten, wollte er den Flug der weißen Taube am Pfingstfest nicht kurzerhand verbieten. Er ordnete aber an, dass alle Fenster und Türen der Kirche offenstehen sollten. Wieder kam das Pfingstfest. Es war ein herrlicher sonniger Sonntag. Nach der Lesung des Pfingstevangeliums schwebte die weiße Taube wieder durch die Kirche. Sie nützte aber keines der Schlupflöcher, sondern flog dreimal hin und her. Dann setzte sie sich dem neuen Pfarrer auf die Schulter. Ihm war das sehr peinlich. Aber das Kirchenvolk geriet vor Freude außer sich und klatschte vor Begeisterung. Alle im Ort warteten nun auf die Erleuchtung."(nach Karl Springenschmidt, 1)

Liebe Gemeinde,
wie mag diese Erleuchtung wohl ausgesehen haben? Ob die Erbauer der Großschönauer Kirche diese Geschichte kannten und deshalb auf dem Schalldeckel über der Kanzel eine Taube angebracht haben? Eher war es das Bewusstsein, dass es eben an ausgefeilten Worten des Predigers und an guter Rhetorik allein nicht liegt; zu den Worten braucht es eben Gottes Geist, der das Gesagte zu Herzen gehen lässt.
  Ja, Pfingsten geschieht Geheimnisvolles, etwas, das wir nicht in der Hand haben, Gottes Geist lässt sich nieder, und weht, wo er will. Heute ist der Wunsch besonders groß, dass er sich bei uns niederlässt, dass er erfahrbar ist und mit seiner Geistfülle wieder Leben in unser altes Kirchenlatein bringt.
 Diese Sehnsucht ist begreiflich und es wäre bedenklich, wenn wir solch ein Sehnen nicht verspüren würden; es wäre bedenklich, wenn wir denken würden: Ach, es ist eigentlich alles gut so wie es ist, wir haben uns eingerichtet und Gottes Wirken in sichere Bahnen gelenkt.
  Denn wir ahnen, dass eine Sehnsucht nach Gottes Wirken billig ist, wenn sie nicht gleichzeitig die Bereitschaft einschließt, sich zu ändern und sich verändern zu lassen. Und nicht bei allen sieht die Veränderung aus wie bei dem Seminarlehrer aus der Geschichte am Anfang, der dann ein geistvolles Buch schreibt, sondern bei Vielen geht es zu wie beim Grafen oder dem unehrlichen Verwalter. Wenn Gottes Geist sie erfasst, da sehen sie sich Dinge tun, die sie von sich aus nicht getan hätten.
  Nun, schreiben wir diese Geschichte doch weiter: Mal angenommen, wir hätten die Tradition mit der Taube bei uns in der Kirche auch; und mal angenommen, die Taube würde auf dir landen: Was denkst du, zu welcher Handlung, zu welchem Schritt oder welcher Entscheidung würde Gottes Geist dich auffordern? Was hast du im Blick auf deinen Glauben, dein Leben, lange auf die lange Bank geschoben? Was würde die Geisttaube dir sagen?
  Wenn wir uns ehrlich befragen, dann ahnen wir, dass da keine leichten Schritte auf uns warten. Und so gibt es die Tendenz, Gottes Geist lieber auf Distanz zu halten, ihn zu domestizieren und lieber in den goldenen Käfig religiöser Traditionen zu sperren und wenn nötig die Decke liebgewonnener Gewohnheit drüber zu werfen, wenn er gar zu viel Unruhe macht. Denn wo er weht, da geschehen mehr als nur kosmetische Veränderungen, da kommt etwas ins Rollen, was unsere Ordnungen durcheinanderbringt. 
  Paulus schreibt davon im Brief an die Korinther. Korinth, die Hafenstadt im heutigen Griechenland war schon damals im römischen Reich eine Metropole, ein religiöser Whirlpool, der für jeden spirituellen Bedarf etwas bot; eine Stadt auch mit verruchten Vierteln, wie sie Hafenstädte teils bis heute haben. Und die Gemeinde in Korinth war tief gespalten. Man bildete sich etwas ein auf die eigene hohe Gottes-Erkenntnis. Die Korinther meinten nicht, dass sie Mangel an Heiligem Geist hätten, sondern dass sie aus dem Vollen schöpften und sich in einer Art geistlichem Wettbewerb gegenseitig mit ihren Geistesgaben übertrumpften.
  Ihnen schreibt Paulus Worte, die es in sich haben und die bis heute nachhallen:

„Die Torheit Gottes ist weiser als die Menschen sind und die Schwachheit Gottes ist stärker als die Menschen sind. Seht doch, liebe Brüder, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch unter euch sind berufen, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt.“ (1.Kor. 25–27)

Mit anderen Worten, wenn wir das Experiment mit der Taube hier bei uns in der Kirche machen würden, sie würde sich nicht zuerst auf die Schulter derer setzen, die einen akademischen Abschluss in der Tasche haben, oder die ein hohes Amt bekleiden. Wie oft kommt es dagegen im Leben einer Gemeinde vor, dass gerade die sogenannten „einfachen“ oder „kleinen“ Leute eine Frömmigkeit und eine Glaubenseinsicht haben, von der die vor der Welt Klugen leben, und von der auch die sogenannte hohe Geistlichkeit zehrt. Ja, "Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig."(vgl. 2.Kor. 12,9) Das ist nun kein Plädoyer, die Schwäche an sich zu suchen oder künstlich herzustellen, aber es hebt vor Gott die Unterschiede auf, die wir gesellschaftlich machen, und über die wir uns voneinander abzuheben versuchen.
  Vor diesem Hintergrund möchten wir dann auch hören, was Paulus weiter schreibt:

"Denn wir haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, damit wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist. Und davon reden wir auch nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen. Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; es ist ihm eine Torheit und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden. Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird doch selber von niemandem beurteilt. Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer will ihn unterweisen«? Wir aber haben Christi Sinn." (1.Kor. 2,12-16)

Paulus stellt den „Geist der Welt“ dem „Geist aus Gott“ gegenüber. Während die Weisheit der Welt durch Abschlüsse und Laufbahnen verdient, verbrieft und behalten wird, wird der Geist aus Gott geschenkt und weitergegeben.(2)
  Ich habe mich nun gefragt, was ist denn „der Geist der Welt“? Man kann in ihm ja viele Geister erblicken. So zum Beispiel den Zeitgeist, der uns ständig nach neuen Dingen Ausschau halten und hinterherrennen lässt. Der Zeitgeist, von dem Otto von Habsburg treffend gesagt hat: „Wer sich mit dem Zeitgeist verheiratet, ist morgen verwitwet.“(3)
 
Gottes Geist ist anders. Er bleibt in den Trends und Wechselfällen des Lebens gleich; und er verlässt uns nicht, sondern leitet uns in die Wahrheit. Ein Beispiel dafür ist Jeanne Wasserzug. Die wenigsten von uns werden sie kennen. Sie wurde vor gut 125 Jahren zur Mitgründerin der Missionsschule Malche, in der erst Missionarinnen ausgebildet wurden und später in DDR-Zeiten viele der Katecheten und Gemeindepädagogen unserer Landeskirche. Auch ich durfte diese Schule durchlaufen und stünde ohne sie heute nicht hier. Jeanne Wasserzug war nun zuvor Missionarin in Tunis. Durch viele Anstrengungen und Entbehrungen war sie endlich Leiterin der Mädchenschule in Tunis geworden. Alle, auch ihre Familie beglückwünschten sie zu diesem Amt. War dieser Schritt doch folgerichtig und brachte viele Möglichkeiten Gottes Wort auszubreiten. Doch Jeanne Wasserzug selbst hatte Zweifel, ob das Gottes Weg mit ihr sei. Eindrücklich beschreibt sie, wie sie schon nach wenigen Wochen und Monaten kraftlos in ihrem neuen großen Büro saß und Gott nicht mehr spürte. Ihr wurde klar, dass dieses Amt nicht Gottes Weg für sie war, sondern ihr eigener.(4)
  Um es mit der Geschichte vom Anfang zu sagen: Die Taube setzte sich ihr auf die Schulter und rief sie nach kurzer Zeit aus diesem doch so christlichen Amt in eine damals noch ungewisse Zukunft. Gottes Geist sagte ihr: „Das ist nicht dein Platz, ich habe andere Gedanken mit dir.“(4, S. 38) Jeanne Wasserzug betete: „Herr, ich will auf dich hören, ich will tun, was du sagst. Rede doch mit mir! Wie gern will ich auf dein Geheiß selbst die Straßen kehren."(4, S. 39) Leite mich mit deinen Augen.
 
Wie anders als allein menschliche Einsicht handelt Gottes Geist. Bei ihm spielt keine Rolle, was wir verdient haben, oder wie wir uns und andere einschätzen und sortieren. Die Botschaft von Gottes Geist ist, „dass wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist.“(1Kor. 2,12)
 
Und was ist uns geschenkt? Der Weg von Jeanne Wasserzug führte über das loslassen ihrer aussichtsreichen Stelle in Tunis nach Brandenburg in ein kleines Tal der märkischen Schweiz. Doch weil hier Gottes Platz für sie war, entfaltete sie eine Kraft- und Segenslinie, die bis heute andauert.(4, S. 47f)
 
Wenn Paulus davon schreibt, was uns geschenkt ist, von der Weisheit Gottes, dann schreibt er von Christus dem Gekreuzigten: „Als ich bei euch war hielt ich es für richtig, nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten.“(1.Kor. 2,2)
 
Doch was für eine Weisheit ist das, wenn wir auf das Kreuz schauen und was für ein Geschenk? „Am Kreuz hängt ein sterbender Mensch, von den Herrschern der Welt, von den politischen und religiösen Machthabern zu Tode gebracht. Am Kreuz ist die Ohnmacht der eigenen Kraft zu sehen; am Kreuz ist aber auch die Allmacht der Liebe Gottes zu uns zu ahnen.“(5, S.74) Nämlich, was Gott es sich kosten lässt, um uns zu erreichen. Jesu Kreuz verbindet Himmel und Erde. Es macht aus dem großen Minus meines Lebens ein Plus. „Die Hände, durch die die Nägel drangen, sie segnen nun alle Welt.“(A.a.O.) Im Brief an die Römer sagt Paulus darum: „Wie sollte uns Gott mit ihm [mit Jesus Christus] nicht alles schenken?“ (Röm. 8,32) Und: "Gottes Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind."(Röm 8,16) Er macht uns gewiss: „In Gott ist mein und dein Leben aufbewahrt: meine Gegenwart und meine Vergangenheit, meine ganze Zukunft. In der Tiefe Gottes ruht mein Leiden und meine Leidenschaft und meine Erlösung.“(5, S.74) Um uns so ganz Gott anzuvertrauen, dazu gebe uns Gott seinen Geist. Und nehmen wir diesen Gedanken mit in die Pfingsttage: Wozu würde Gottes Geist mich und dich rufen, wenn die Taube auf meiner Schulter landen würde? Wenn es auch keine einfachen Schritte sind, über ihnen liegt Verheißung. Gottes Geist will auch die Kraft dazu geben, diesen Weg zu gehen und das Leben zu finden, das Gott für uns bereit hat. Amen.

Verwendete Literatur:
(1) "Die Pfingsttaube" von Karl Springenschmidt, in: Wolfgang Riewe, Geschichten der Zuversicht, Lutherverlag 42014, S. 34. (2) Christel E.A. Weber, 1Kor 2,12-16. "Woran erkennt man eigentlich, dass ihr Christinnen und Christen seind?", in: Göttinger Predigtmeditationen, 77. Jahrgang, Heft 2 (280-285), Seite 284. (3) Otto von Habsburg, in: Kristine Fratz, Das Buch vom Zeitgeist. Und wie er uns vorantreibt, Brunnen Basel 2017, S. 5. (4) Elisabeth Braun-Dipp, Jeanne Wasserzug oder die Kraft der Schwachen, Evangel. Missionsverlag Stuttart 1958. Besonders das Kapitel: Wohin jetzt?, Seite 37-40. (5) Manfred Josuttis, Die Tiefen der Gottheit, in: Ders. Offene Geheimnisse. Predigten, Gütersloh 1999, S. 71-76.

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