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Liebe mich...

Vom Angenommen-Sein und Annehmen
Predigt am 3. Advent 2024 über Römer 15,1-13 in Großschönau und Hörnitz
Von Pfr. Gerd Krumbiegel

Liebe Gemeinde,
jetzt schnell noch ein paar Karten für Weihnachten kaufen, denkt die junge Frau und geht zum Postkartenständer der Buchhandlung. Ihr Blick schweift über die Bilder und Sprüche. Zu sehen sind die üblichen Ver­däch­tigen, die KAWOHL-Weihnachtsmotive. Jedes Jahr die gleichen Zutaten, nur neu arrangiert. So etwas wie Serviervorschläge einer gelingenden Weihnachtszeit: Eine Kerze mit Zimtstern, Orange und Tannen­zweig, eine winterlich verschneite Land­schaft mit leuchtender Laterne im Halb­dun­kel, ein paar eingepackte Präsente unterm Tannenbaum, und der unvermeidliche wohlbeleibte Weih­nachts­mann mit Rauschebart, aus dessen Sack Geschenke hervor lugen; dann noch Christbaumkugeln, Schneeflocken, Herzen und Plätzchen… Und die Sprüche sind auch wie sie sind. Sie will sich schon abwenden, da stockt sie. Ihr Blick bleibt an einer Karte hängen. Es ist nicht das Bild. Es sind die Worte, die sie fesseln. „Liebe mich“, steht da. „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, weil ich es dann am meisten brauche.“(Helen Keller) – Das Motiv lässt sich gar nicht eindeutig zuordnen. Ob die Karte noch hier hängen geblieben ist, bevor alles auf Weihnachten getrimmt wurde? – Sie spürt, wie dieser Satz ihr unter die Haut rutscht. „Liebe mich“ Die berufliche Situation ist gerade so angespannt und auch zu Hause stolpert sie von einem Wortgefecht ins nächste. Kleinste Anlässe genügen oft schon. Klar gehören zum Streit immer zwei, aber dieser Satz rührt etwas in ihr an. „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, weil ich es dann am meisten brauche.“ Sie muss schlucken und wendet sich ab vom Karten­ständer. Heute kauft sie keine Karte, aber diesen Satz nimmt sie mit. Er hat sich schon eingeprägt. Hat sich verselbständigt. Arbeitet in ihr. „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene.“ Wenn das einer könnte, denkt sie, das wär's! Dann wär' mir geholfen.(1)

 

Liebe Gemeinde,
vielleicht werden wir auch hin und wieder überrascht, wo uns so ein Adventsmoment erreicht oder erwischt. Beim Einkaufen, auf der Suche in den Regalen, oder in der Bibellese. In dieser Zeit, angefüllt mit Vorbereitungen und manchem Stress, da fahren wir ja gleichsam die inneren Antennen aus um Signale zu empfangen, die uns auf Weihnachten vorbereiten. Ja, und manche Karte wir da auch geschrieben. Die Sehnsucht nach Zuwendung ist groß, und möglichst keinen zu vergessen.
Heute morgen erreicht uns freilich nicht nur eine Postkarte, sondern ein ganzer Brief von Paulus. Er hat seine Einsichten nicht auf eine Kalenderweisheit eingedampft und doch steht das, was er schreibt im Zusammenhang mit dem Satz auf der Karte der Frau: „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, weil ich es dann am meisten brauche.“(Helen Keller)

Paulus schreibt in Römer 15:
Wir aber, die wir stark sind, sollen die Schwächen derer tragen, die nicht stark sind, und nicht selbstgefällig nur an uns denken. 2 Jeder von uns soll seinem Mitmenschen zu Gefallen leben, und zwar so, dass damit die Gemeinschaft gefördert und die Gemeinde aufgebaut wird. 3 Auch Christus hat ja nicht sich selbst zu Gefallen gelebt, sondern so, wie es in den Heiligen Schriften vorhergesagt war: »Die Schmähungen, mit denen man dich, Gott, lästert, sind auf mich gefallen.« 4 Was in den Heiligen Schriften steht, wurde im Voraus aufgeschrieben, damit wir den Nutzen davon haben. Und damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben. 5 Gott, der Geduld und Mut schenkt, gebe euch, dass ihr alle in der gleichen Gesinnung miteinander verbunden seid, so wie es Jesus Christus gemäß ist. 6 Dann werdet ihr alle einmütig und wie aus einem Mund den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus preisen. 
So weit Paulus bis hierhin. (Zwei weitere Postkarten von ihm folgen noch.)

Deutlich ist: Paulus schreibt mehr als eine Postkarte. Sein Brief an die Römer wird die Zusammen­fassung seiner Lehre. 16 Kapitel! Und die Gemeinde in Rom ist eine zerrissene Gemeinde, da war schon vorher im Brief viel von Auseinandersetzungen zu lesen. "Vom Streit zwischen Starken und Schwachen. Zu den sogenannten Schwachen gehörten hier drei Außenseitergruppen: 1. die Vegetarier, 2. die Juden und 3. die Judenchristen."(2, S.134) Die aßen kein Fleisch, um sicher zu sein, nicht etwa Fleisch zu essen, das zum Opfer für Götzen gedient hatte. (Es ging dabei also weniger um das „Tierwohl“, was ein Begriff aus unseren Tagen ist.) Aus demselben Grund verzichteten sie auch auf Wein, der womöglich ebenfalls kultisch geweiht war.(2) Und dann gab es die andere Gruppe, zumeist Heidenchristen, die sogenannten Starken, die kein Speisetabu kannten und sich im Glauben an Jesus stark fühlten,(2) zu essen, was auf den Tisch kam, also ordentlich zulangten.
  Aus diesem Unterschied in der Überzeugung entstanden dann allmählich Haltungen: Der eine schaut den anderen arg­wöhnisch an, was er sich erlaubt oder wie er seinen Glauben lebt; die Differenz in der Meinung wird mehr und mehr zur Spaltung. Eine Spaltung, in der die Gemeinsamkeit schwindet.
  Wir leben ja nun in einer Zeit, wo solche Auseinandersetzungen, Streitigkeiten und Verhärtungen an der Tagesordnung sind. Wir haben uns schon fast daran gewöhnt. Für Paulus aber war das keine Lappalie, vor allem, wenn es nicht nur das Umfeld, sondern die Gemeinde betraf.
  Das klingt auch in einem Lied an. Wenn wir das Motto dieses Sonntags vorhin gesungen haben: „Bereitet doch fein tüchtig den Weg dem großen Gast.“ (EG 10) So heißt das ja auch, dasjenige aus dem Weg zu räumen, was Jesus hindert bei uns anzukommen. Eine zerstrittene Gemeinschaft, die einander nicht mehr gelten lassen kann, ist ein Hindernis für Jesus, um bei uns anzukommen. Das ist eine Einsicht dieser Worte: Wenn wir Christus den Weg in unser Herz bereiten wollen, dann müssen wir zuvor erst den Bruder und die Schwester unser Herz finden lassen und füreinander zugänglich werden. Wir sollen nicht meinen, dass wir uns gegeneinander abschotten könnten und dass gleichzeitig Jesus bei uns ankommt. In der Bergpredigt sagt Jesus: „Wenn du zum Altar kommst und bringst deine Gabe und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder/deine Schwester etwas gegen dich hat, so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder/deiner Schwester und dann komm und opfere deine Gabe.“ (Mt 5,23f)
 
Es gilt, es nicht achselzuckend hin­zuneh­men, wenn wir einander fremd werden, und das betrifft geistliche Themen genauso wie politische. Es ist dann an uns, aufeinander zuzugehen, damit nicht aus einem Fremdeln, eine Unversöhnlichkeit entsteht und aus der Unversöhnlichkeit eine Mauer. Denn eine Mauer kann der Anfang eines Gefängnisses sein,(3, S.189) oder einer „Blase“, wie man heute sagt.
  Trotzdem ist nicht alles gleich-gültig! Natürlich gibt es auch Kernpunkte unseres Glaubens, die nicht Gegenstand bloßer Meinung sind: Dass wir Vergebung von Gott brauchen, dass nur Jesus die Brücke zum Vater ist und dass wir in IHM den Weg, die Wahrheit und das Leben finden.
  Auf der anderen Seite ist Glaube und Gemeinde auch nicht mit Konformität zu verwechseln. Es geht nicht darum, bis in jede Einzelheit identischer Meinung zu sein. Es gibt verschiedene Ansichten über verschiedene Themen, die man teilen kann oder nicht. Und die Frage stellt sich, wie wir zu einer versöhnten Verschiedenheit kommen.
  Helfen mag beim Aufeinanderzu-Gehen der Gedanke auf der Postkarte: Womöglich schlägt ja die gleiche Sehnsucht beiderseits der Mauer, die heißt: „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, weil ich es dann am meisten brauche.“(Helen Keller)

Mit Paulus gesprochen: Wir aber, die wir stark sind, sollen die Schwächen derer tragen, die nicht stark sind, und nicht selbstgefällig nur an uns denken. 2 Jeder von uns soll seinem Mitmenschen zu Gefallen leben, und zwar so, dass damit die Gemeinschaft gefördert und die Gemeinde aufgebaut wird.
 
Wunderbar hat das auch Rolf Krenzer beschrieben in seiner Betrachtung unter der Frage: "Wann fängt Weihnachten an?"

"Wenn der Schwache
dem Starken die Schwäche vergibt,
wenn der Starke
die Kräfte des Schwachen liebt,
wenn der Habewas
mit dem Habenichts teilt,
wenn der Laute
mal bei dem Stummen verweilt,
und begreift,
was der Stumme ihm sagen will,
wenn der Leise
laut wird
und der Laute still,
wenn das Bedeutungsvolle
bedeutungslos,
das scheinbar Unwichtige
wichtig und groß,
wenn mitten im Dunkel
ein winziges Licht
Geborgenheit,
helles Leben verspricht,
und du zögerst nicht,
sondern du
gehst, wie du bist,"

[...auf Christus] zu,
dann, ja dann
fängt Weihnachten an."(4)

Und Paulus beschreibt genau das - auf Postkarte 2 und 3 - wenn weiter schreibt:
7 Lasst einander also gelten und nehmt euch gegenseitig an, so wie Christus euch angenommen hat. Das dient zum Ruhm und zur Ehre Gottes. 8 Denn das sage ich: Christus ist ein Diener der Juden geworden, um Gottes Treue zu bezeugen. Durch ihn hat Gott die Zusagen eingelöst, die er ihren Vorfahren gegeben hatte.
9 Die anderen Völker aber haben Grund, Gott für sein Erbarmen zu rühmen, wie es schon in den Heiligen Schriften heißt: »Dafür will ich dich, Herr, preisen unter den Heiden und deinen Ruhm besingen.«
10 Es heißt dort auch: »Jubelt, ihr Heiden, zusammen mit Gottes erwähltem Volk!« 11 Und weiter: »Preist den Herrn, alle Heiden; alle Völker sollen ihn rühmen!« 12 Und der Prophet Jesaja sagt: »Es kommt der Spross aus der Wurzel Isais, er steht auf, um über die Völker zu herrschen. Auf ihn werden Menschen aller Völker ihre Hoffnung setzen.«
Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.

Und mit einem Mal wird aus unserem Text doch noch ein Weihnachtstext! Da hören wir vom Spross aus der Wurzel Isais, da haben wir schon das Lied: Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart (EG 7), auf den Lippen. Doch bevor wir spätestens zu Weihnachten darin einstimmen können, gilt es, den Weg zueinander und damit letztlich für Christus den Weg zu bereiten. Damit, wenn er kommt, nicht einen Haufen Konflikte vorfindet, die wir für die Feiertage unter den frommen Teppich gekehrt haben und die uns spätestens beim Frühjahrsputz wieder einholen, sondern dass er uns aufgeräumten Herzens findet.
  Nun, liebe Gemeinde, vielleicht geht es manchem unter uns so wie mir bei der Aufforderung von Aufräumen und Putzen. Dass ich erstmal nicht aufatme, sondern durchatme und dass ich da wie vor einem Berg stehe. Soll das/muss das jetzt auch noch sein? Zum äußeren Putzen nun auch das geistliche Aufräumen? Da läuft man in der Vorweihnachtszeit gefühlt schon auf der letzten Rille, da kommen hier noch zusätzliche Aufgaben auf uns zu…
  Paulus schreibt aus genau dem Grund diesen einen Vers ins Zentrum des heutigen Textes, den wir genau hören möchten: „Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen. Zum Lob Gottes.“ Das Einander-Annehmen kostet Kraft, gar keine Frage, aber die müssen wir nicht selbst erzeugen, sondern sie speist sich daraus, dass Gott uns - dich und mich - angenommen hat noch ehe wir irgendetwas tun konnten. Weil wir durch seine Vergebung und durch seine Liebe bereits Angenommene sind, darum möchten wir aus dieser Kraftquelle heraus schöpfen und einander annehmen:
  Geduldig,
  den anderen nicht verloren gebend,
  nachgehend,
  auch nachgebend,
  vor allem hoffnungsvoll.
Denn Gottes Liebe umschließt nicht nur den Bruder und die Schwester neben mir in der Kirchenbank, sondern sogar ausdrücklich wie es im Text heißt die „Heiden“. Wir, die wir Sonntag für Sonntag treu zur Kirche kommen, halten vielleicht diejenigen für Heiden, die nur an Weihnachten kommen. Wie wäre es, sie – gerade sie! – etwas von der Annahme spüren zu lassen, die Christus uns geschenkt hat? Das wäre wohl die beste Predigt, die wir halten könnten. Und so möchte ich als Kanzelsegen schließen mit dem Wort, mit dem auch Paulus schließt:
Und der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.
Amen.

(1) Einstieg nach einer Idee und Formulierung von Martina Servatius abgewandelt. Im Original so: "Sie steht am Postkartenständer vor der Buchhandlung. Ihr Blick schweift über die Bilder und Sprüche. Blumenwiese, Wolken am Himmel, Katzen, Herzen, Steine usw. Die Sprüche, na ja. - Plötzlich stockt sie. Ihr Blick bleibt hängen. Es ist nicht das Bild. Es sind die Worte, die sie fesseln. „Liebe mich", steht da. „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, weil ich es dann am meisten brauche." - „Scheiße", denkt sie, als sie spürt, wie ihr die Tränen in die Augen schießen, „ich kann doch hier nicht anfangen zu heulen!" Sie wendet sich ab vom Kartenständer. Sie starrt in das Schaufenster. Aber der Satz hat sich schon eingebrannt. Hat sich verselbstständigt. Arbeitet in ihr. „Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, weil ich es dann am meisten brauche." Wenn das einer könnte, denkt sie, das wär's. Dann wär' mir geholfen." Marina Servatius, Adventspost, in: Pastoralblätter 2011/12, Schriftleitung G. Engelsberger, S. 790-793.
(2) Gerd Theissen, Macht korrumpiert. Und die Notwendigkeit von Antikorruptionsräumen. Röm 15,1-13, in: Ders. Erlösungsbilder. Predigten und Meditationen, Gütersloh 2002, S. 134-141.
(3) Phil Bosmans, Liebe auf dem prüfstand, in: Axel Kühner, Zuversicht für jeden Tag, 5.Aufl. 2013, S.189. Das Zitat lautet im Original: "Dir ist bewusst, dass der andere anders ist und dir im Letzten immer fremd bleiben wird. Und dann geh auf die Suche nach Vergebung. Wenn du nicht vergeben kannst, entsteht eine Mauer. Und eine Mauer ist der Anfang von einem Gefängnis."
(4) Rolf Krenzer, in: Ders. Die schönsten Geschichten zur Advents- und Weihnachtszeit. Ein Lese- und Erzählbuch,  Freiburg 1992, S. 115. Zitat am Ende im Sinne der Predigtaussage abgewandelt. Original: "darauf zu" statt "auf Christus zu"

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Pfarrerin Christin Jäger
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Tel.: 0162 573 9970
Mail: Christin.Jaeger@evlks.de

 
Öffnungszeiten des Pfarramtes
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Friedhofsangelegenheiten Hainewalde: Herr Andreas Großer Montags 15.00-17.00 Uhr im Hospital, am Kirchberg 6, in Hainewalde

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